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demenz
DAS MAGAZIN
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16 · 2013
Heino Masemann:
Im Vorfeld zu unserem
Gespräch habe ich mir noch einmal Gedan-
ken dazu gemacht, was für mich eigentlich
Demenz bedeutet. An meiner Mutter erlebe
ich Demenz als eine Lebensphase, die in der
Bibel mit „lebenssatt“ beschrieben wird. Ir-
gendwann ist man des Lebens satt. Ich würde
sagen, bei meiner Mutter ist es so. Es sind
Dinge passiert, denen sie nicht standhalten
konnte, und dann hat sie sich aus dem Leben
zurückgezogen. Der Tod meines Vaters nach
50 gemeinsamen Jahren. Plötzlich allein mit
dem großen alten Haus und den vielen Repa-
raturen. Vier Jahre später stirbt mein Sohn,
ihr Enkelsohn. Das waren die Auslöser, der
Anfang des Sichveränderns.
Früher hätte ich gesagt, da brach die
Krankheit Demenz aus. Heute sage ich, da
hat sie sich aus dem Leben verabschiedet.
Die Lebenskraft, die zieht sich aus dem Leib-
lichen zurück, und sie zieht sich auch aus dem
Geistigen zurück. Ein natürlicher Prozess im
Leben, für mich ist das Altern eine Rückwärts-
bewegung.
demenz:
Kann es nicht auch eine Vorwärts-
bewegung sein?
Heino Masemann:
Ja, je nachdem, wie der
Blick gerichtet ist. Ich würde sagen, es ist ein
Vorrecht, zu altern. Vielleicht ist es sogar ein
Vorrecht, dement sein und sich zurückziehen
zu dürfen. Für mich ist es eine Hilfe, mir zu
sagen: Okay, ich gönne ihr das.
demenz:
Wenn Sie sagen, es sei wichtig für Sie,
die Demenz Ihrer Mutter so sehen zu können,
bedeutet das auch, besser mit den Verände-
rungen umgehen zu können?
Heino Masemann
ist Pastor und arbeitet als Geschäftsführer einer gemeinnützigen Organisation
in Hannover. Seine Mutter lebt in einem Pflegeheim. Sie fühlt sich dort wohl und wird, das ist
ihm klar, so gut um- und versorgt, wie sie selbst es nicht könnte. Trotzdem ist das Spektrum
seiner Gefühle breit gefächert. Die Demenz seiner Mutter ist für ihn eine stete Auseinander-
setzung, und manchmal muss er sich dabei auch der eigenen Hilflosigkeit aussetzen.
demenz
wollte genauer wissen, wie er emotional damit umgeht.
„Hilflosigkeit
Interview
|
Michael Ganß
Heino Masemann:
In meinem Empfinden
hat Demenz mit loslassen zu tun. Meine Mutter
hat ganz viel von dem, was ihr vorher wichtig
war, losgelassen. Die Sorge um dies und jenes.
Sie macht es einfach nicht mehr. Für mich war
es ein schmerzhafter Weg, der auch noch nicht
zu Ende ist, bis ich annehmen konnte: Sie darf
loslassen, sich zurückziehen, aufgeben und
Dinge nicht mehr können.
demenz:
Darf sie auch die Verantwortung für
die Empfindungen ihres Sohnes loslassen?
Heino Masemann:
Sie ist nicht mehr für
meine Gefühle verantwortlich. Ich bin 51 Jahre
alt. Sie ist 80, da darf sie Verantwortung und
auch Lasten auf mich übertragen. Auch wir An-
gehörigen müssen loslassen. Ich muss meine
Schablone, wie ich mir das Leben meiner Mut-
ter mit 80 vorstelle, aufgeben und loslassen.
demenz:
Es war ein schwerer Weg bis zu dieser
Haltung, sagten Sie. Was waren Stationen auf
diesem Weg?
Heino Masemann:
Zunächst war ich mit
der Situation konfrontiert, dass sie nicht mehr
alleine leben konnte. Auf unterschiedliche
Weise habe ich versucht, ihr trotzdem ein
möglichst selbstständiges Leben zu ermög-
lichen. Eines Tages musste sie duschen, und
außer mir war niemand da. Also musste ich
meine alte Mutter duschen. Das war schon
ein komisches und sehr fremdes Gefühl, das
ich so nicht kannte. Durch den Kopf ging mir
dabei: Als ich klein und hilfsbedürftig war, hat
sie mich geduscht und jetzt war sie plötzlich,
nicht klein, aber alt und hilfsbedürftig. Ein
sehr fremdes Gefühl war das.
demenz:
Können Sie dieses Gefühl noch ein
bisschen genauer beschreiben?
Heino Masemann:
Es war Scham. Scham,
meine alte Mutter nackt und hilflos zu sehen.
Aber es war da auch ein Fremdschämen. Sie
tat mir leid. Auf dem Weg nach Hause habe
ich im Auto geweint.
demenz:
Was sind für Sie die schweren Mo-
mente im Begleiten Ihrer Mutter?
Heino Masemann:
Schwer ist es, wenn ich
den Eindruck habe, sie will sich an etwas er-
innern und sie merkt, dass sie es nicht weiß.
Dann wirkt sie hilflos, und ich bin es auch. Sie,
aber auch ich, muss diesen Moment aushal-
ten. Ich habe den Eindruck, dass es Momente
großen seelischen Schmerzes für sie sind. Der
Schmerz tut auch mir weh. Es ist ein Mitleiden.
Andererseits kann meine Mutter in ihrer
Demenz auch lustig und fröhlich sein, und ich
kann mit ihr zusammen lachen. Sie hat ja nicht
alles verloren, sondern ist immer noch die
Person Alma Masemann. Natürlich schmerzt
es, wenn das Wesen der Person die sie ist,
manchmal nur wie durch einen zerbrochenen
Spiegel zu sehen ist.
demenz:
Was bedeutet es, wenn Sie sagen:
„Ich sehe die Person Alma Masemann heute
verzerrt?“
Heino Masemann:
Mein Bild ist ein wenig
verzerrt, weil ich nie das ganze Bild sehen
kann, sondern immer nur Ausschnitte. Sie ist
aber alles. Sie ist die, die sie vor 60 Jahren war.
20-jährig, hoffnungsvoll, gerade junge Mutter,
in der absoluten Blüte, und sie ist die, die sie
jetzt mit 80 ist. Sie ist die Gleiche, nur mein
Bild von ihr, das verändert sich. In mir trage
ich ein paar andere Bilder, die ich mehr liebe,
die mir gefälliger sind, die ich schöner finde.
Das Ureigentliche, die Seele und das Ein-
zigartige ihrer Person blitzen immer wieder
auf. Schmerzhaft ist, dass ich über weite Stre-
cken den Menschen, den ich kannte, nicht so
„Eines Tages musste sie duschen, und außer mir
war niemand da. Also musste ich meine alte Mut-
ter duschen. Ein sehr fremdes Gefühl war das.“