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demenz
DAS MAGAZIN
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17 · 2013
Die dauerhafte Betreuung von pflegebedürftigen Men-
schen ist eine verantwortungsvolle Aufgabe. Die für die
Betreuung zuständigen Personen, ob Angehörige oder
professionelle Pflegende, haben aus verschiedensten
Gründen oft nur eingeschränkt Zeit. Sie freuen sich,
wenn die pflegebedürftige Person bei der Betreuung
„gut mitmacht“ und die „als notwendig gesehene Hilfe
mit Dank annimmt“.
Diese Mitarbeit kann bei der Betreuung von Men-
schen mit Demenz fehlen, zum Beispiel dann, wenn
diese die Hilfsangebote nicht verstehen oder unnötig
finden. Versuchen Betreuende dann unter Zeitdruck, die
aus ihrer Sicht notwendige Hilfe zu leisten, wird eine
Aufforderung leicht missverstanden und diese Hilfe
leicht als Übergriff – und damit auch als bedrohlich
empfunden.
Aus Sicht der betreuten Person ist es allerdings ver-
ständlich und gut nachvollziehbar, dass sie sich gegen
diesen Übergriff zu Wehr setzt. Eine solche Reaktion
wird im „normalen Alltag“ als Zeichen von Kraft und
persönliche Stärke geschätzt. In der Pflegesituation wird
dieses Verhalten meines Erachtens noch viel zu oft eher
negativ und als unerwünscht gesehen.
Die vielen Gesichter des Sichwehrens
Abhängig von – noch – vorhandenen Fähigkeiten und
angelernten Reaktionsmustern setzen sich Menschen
sehr verschieden zur Wehr. Ich stellte fest, dass es in
äußerlich ähnlichen Situationen zu sehr verschiedenen
Reaktionen kam. Neben den individuell unterschied-
lichen Formen, sich zu wiedersetzen, nehmen auch
folgende Aspekte darauf Einfluss:
Der Zeitpunkt der Intervention
Die Wachheit des Bewohners
Die seelische Verfassung wie beispielsweis Ruhe
oder Stress des Bewohners
Die seelische Verfassung wie beispielsweise Ruhe
und Stress des Betreuenden
Die Bekanntheit – Vertrautheit des Betreuenden für
den Bewohner
Ich möchte anhand einiger Praxisbeispiele aus meiner
Arbeit im Altenpflegeheim verschiedene Reaktionen
schildern. Ich gehe dabei auf die Perspektiven sowohl
von Bewohnern als auch von Betreuenden ein und gebe
Anregungen zum gemeinsamen respektvollen Umgang
mit einer möglichen Krise.
Wenn Bewohner sich gegen Pflegehandlungen zur Wehr setzen,
hat das immer ganz spezielle Gründe. Hier sind individuelle Lösungen gefragt
Bei Abwehr –
Verständnis
!
Johannes van Dijk
Praxisbeispiel 1
„Gerda Müller* klammert sich fest“
Frau Gerda Müller, 85 Jahre alt, war früher Geschäftsfüh-
rerin einer Firma und gewöhnt, selbstständig Entschei-
dungen zu treffen. „Sie bestimmte, wo es langgeht!“
Durch ihre Demenzerkrankung konnte sie ihre Wünsche
nicht mehr deutlich artikulieren.
Es gab morgens oft große Probleme beim Aufstehen.
Sie verspannte die Muskeln in Armen, Händen und Bei-
nen, klammerte sich an Bettdecke und Bettkante fest
und konnte nur von zwei Personen in einem Rollstuhl
ins Badezimmer und danach ins Wohnzimmer gebracht
werden. Auch das Anziehen war schwierig, weil sie
ihre Arme und Hände verspannte. Nach der Grund-
pflege waren Frau Müller und auch die Personen, die
sie versorgt hatten, oft völlig erschöpft. Sie wirkte dann
in sich gekehrt, reagierte nicht auf Fragen bezüglich
Essen und Trinken und hielt die ersten Stunden nach
der morgendlichen Versorgung ihren Mund zu, wenn
ihr Essen und Trinken angeboten wurde.
Es gab aber auch Betreuende, bei denen sich ein
ganz anderes Bild ergab. Hier war Frau Müller sehr
friedlich und freundlich und machte gut mit. Sie konnte
ihre Beine noch über die Bettkante bewegen und sich
an den Händen der sie betreuenden Person hochziehen.
Zusammen gingen sie zu Fuß ins Badezimmer. Frau
Müller wusch sich teilweise selbst und akzeptierte Hil-
festellungen. Nach der Grundpflege ging sie unterstützt
zu Fuß ins Wohnzimmer, wo sie ihr Frühstück weitge-
hend selbstständig vom gedeckten Tisch auswählte, es
selbstständig zubereitete und aß.
Als im Team diese Situation gemeinsam betrachtet
wurde, stellte sich heraus, dass die Probleme auftraten,
wenn Betreuende relativ schnell mit der Pflege anfingen.
Wurde sie zu früh mit den freundlich gestellten Fragen,
„ob sie gewaschen werden und aufstehen möchte“, kon-
frontiert, reagierte Frau Müller meistens mit Schweigen.
Manche Betreuende meinten, sie würde die Fragen nicht
verstehen und entschieden, die als erforderlich ange-
sehene Versorgung durchzuführen. Hierfür versuchten
sie, Frau Müller auf die Bettkante zu setzen, mit dem
oben genannten Widerstand als Folge.
Die Betreuenden, bei denen es besser ging, nahmen
sich bei der ersten Kontaktaufnahme Zeit. Sie bemerk-
ten, dass Frau Müller auf Fragen nicht sofort reagierte
und bei der ersten Ansprache oft „abwesend“ wirkte, je-
doch nach etwa 30 Sekunden doch eine Reaktion zeigte.
Erst nach dieser relativ langen Zeit bewegten sich ihre
Frau Müller
benötigte immer
ausreichend
Zeit, um wieder
in unserer Welt
anzukommen.
Wurde sie zu
schnell zu et­
was genötigt,
wehrte sie sich.
Gab man ihr die
benötigte Zeit,
konnte sie vie­
les sogar noch
selbst machen.