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demenz
DAS MAGAZIN
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17 · 2013
Hintergrund
Mülltonne – von Zeit zu Zeit werden ihnen Sägespä-
ne in die Tonne geschüttet. Manchmal bekommen sie
Brei. Sie jammern und reden Unsinn aus der geöffneten
Mülltonne heraus.
Die Demenz nimmt zu, kriecht in alle Ecken der
Gesellschaft, wird zum Medienstar. Talkshows, Filme,
Erfahrungsberichte – und vor allem Projekte, Projekte
und noch mal Projekte. Das Thema Demenz wird gerade
in einer medialen Massenschlacht enttabuisiert.
Aber die eine Frage, die tabuisierte, die verheimlichte
Frage: ob die Demenz etwas mit der Gesellschaft, in der
wir leben, zu tun hat – die darf nicht gestellt werden. Wer
die Frage stellt, bekommt es gleich empört zu hören:
Wollen Sie etwa den Menschen, die demenzkrank sind,
auch noch Schuld an ihrem Leiden geben?
Keineswegs. Nein, um Gottes willen, nein.
Demenz aus Fast-Food-Discounter
und Apotheke?
Obwohl man die Frage stellen könnte, wie viel Demenz
eigentlich durch eine Lebensweise bedingt ist, die uns
kaputtmacht. „Friss dich in die Demenz“ – unter die-
ser Devise hat der „New Scientist“ kürzlich von dem
Verdacht berichtet, dass ein beträchtlicher Prozentsatz
der Demenz aus schädlicher, vergiftender Billignah-
rung stammen könnte. Und wenn man liest, dass die
Mehrzahl der Alten massenhaft Medikamente schluckt,
ohne auf die Beipackzettel zu schauen und die medi-
zinischen Gesundheitsexperten die vielen Tabletten
verordnen, von deren Wechselwirkung untereinander
sie nichts wissen: Dann stellt sich natürlich die Frage,
warum eigentlich die Menschen diese Vergiftungspro-
zesse widerspruchslos mitmachen. Insofern darf man
schon die Frage aufwerfen, wie viel Mitverantwortung
so mancher an seiner Demenz trägt. Cornelia Stolze hat
berichtet, welche unglaublichen Mengen an Tabletten
Walter Jens täglich verbraucht hat. Glaubt jemand, dass
das folgenlos ist?
Aber mir scheint, dass die Demenz darüber hinaus
eine geradezu tragische Dimension hat oder haben
könnte. Das Alter ist nicht mehr eingebettet in einen
Prozess, der der Altersschwäche einen akzeptierten Ort
einräumen würde. Schlechter hören, schlechter sehen,
schlechter gehen und schlechter erinnern: Das kann
nun einmal Teil des Altwerdens sein. Brille, Hörgerät,
Kunsthüfte – manches kann man kaschieren. Aber beim
Verstand geht es offenbar nicht.
Und die Verstandesschwäche ist nun mal in einer
Gesellschaft wie der unseren das Schlimmste, was
zustoßen kann. Beschämend, kränkend, isolierend. Je
schneller, isolierender, konsumistischer die Lebenswelt
wird, desto mehr geraten die Menschen mit Demenz ins
Abseits. Man muss es so sagen: Nicht die Menschen mit
Demenz entfernen sich von uns, sondern wir lassen sie
zurück. Sie widersetzen sich der Beschleunigung, der
Modernisierung, dem Tempo. Natürlich nicht – jedenfalls
soweit wir das wissen – in einem absichtlichen Akt des
Widerstands. Aber sie sind Inbegriff der Widerständig-
keit. Sie tun einfach nicht, was sie sollen. Man muss
das einmal ganz nüchtern beschreiben: Menschen mit
Demenz sind die Leistungsunfähigen in einer Welt der
Leistungsfähigkeit. Sie sind Konsuminkompetente in
einer gänzlich konsumistisch herabgewürdigten Le-
benswelt. Sie lesen keine Zeitung, sie essen nicht, wenn
sie essen sollten; sie schlafen nicht, wenn sie schlafen
sollten; sie respektieren nicht die Privatsphäre ande-
rer. Sie funktionieren einfach nicht. Unter dem Strich
kann man sagen: Sie sind der Sand im Getriebe einer
Vorwärtsgesellschaft. Nicht weil sie es wollen. Und das
ist für die Macher das größte Ärgernis: Sie sind einfach
nicht zu disziplinieren. Frau Faller* wirft der durchaus
liebenswürdigen Pflegehilfskraft eine volle Milchtüte
an den Kopf und schreit sie noch dazu an. Kriegt die
Pflegekraft eine Wut? Möchte sie zurückwerfen? Wird
ihr Widerstand in professioneller Neutralität zum Ver-
schwinden gebracht? Und wo bleibt die Wut?
Die Demenz – sie ist ein Schlüssel zum Verständnis
der Welt, in der wir leben. Aber es gehört Mut und
Entschlossenheit dazu, diesen Schlüssel umzudrehen
und die Tür zu öffnen. Man kann dann sehen, dass die
ganze Wut des Machens, die wir im Umgang mit Demenz
entwickeln, vielleicht der Aufgabe dient, die Fragen, die
die Demenz an uns stellt, wegzudrücken, nicht zum Zuge
kommen zu lassen. Der Umgang mit Demenz – das ist ein
vielfältiges, höchst ambivalentes Widerstandsnest […].
*Name von der Redaktion geändert
Prof. Dr. Dr.
Reimer Gronmeyer
ist Soziologe an der Justus-Liebig-
Universität Gießen und Vorsitzender
der Aktion Demenz der Robert Bosch
Stiftung.
E-Mail: reimer.gronemeyer@me.com
Demenz verlangt uns etwas
Ungewöhnliches ab:
das Eingeständnis der Hilflosigkeit.
Nicht die Menschen
mit Demenz ent­
fernen sich von uns,
sondern wir lassen
sie zurück.
Manche Begleiterscheinung des
Altwerdens lässt sich durch Hilfs-
mittel kaschieren. Beim Verstand
geht das offensichtlich nicht.
Widerstandsnest