Seite 30 - demenz_magazin_17

Basic HTML-Version

28
demenz
DAS MAGAZIN
|
17 · 2013
Wer kennt es nicht, das Trauerjahr. Ein Jahr lang bei
dem Verlust eines nahestehenden Menschen zu trauern,
erschien den Menschen aus gutem Grund schon immer
als normal. 1994 verkürzte ein kleiner Kreis sogenannter
Experten diesen Zeitraum auf zwei Monate. Und ab
2013 läuft jeder, der zwei Wochen nach dem Tod eines
Angehörigen immer noch schwer niedergeschlagen ist,
Gefahr, als geisteskrank eingestuft und mit Psychophar-
maka „bearbeitet“ zu werden.
Ein schlechter Witz? Leider nein! Im Mai 2013 soll die
5. Ausgabe des DSM veröffentlicht werden. Dieses Hand-
buch, das 1952 zum ersten Mal von der „Amerikanisch-
Psychiatrischen-Gesellschaft“ (APA) herausgegeben wur-
de, listet Hunderte vermeintliche Geisteskrankheiten
und psychische Störungen auf. Seine Bedeutung kann
kaum überschätzt werden. Was im DSM steht, ist für
Hunderttausende Psychiater auf der Welt Gesetz. In der
Forschung ist das DSM-System fast konkurrenzlos. In
Deutschland hat zwar ein anderes Klassifikationssystem,
das ICD, Vorrang, doch auch das soll bald im Sinne des
DSM „reformiert“ werden.
DSM
Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
(Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychi-
scher Störungen). Herausgegeben von der Amerika-
nischen Psychiatrischen Vereinigung. 1952 erstmals
erschienen. Seit 1996 gibt es eine deutsche Ausgabe.
In 2013 soll die 5. Ausgabe des DSM erscheinen.
ICD
International Statistical Classification of Diseases and
Related Health Problems (Internationale statistische
Klassifikation der Krankheiten und verwandter Ge-
sundheitsprobleme). Medizinisches Klassifikations-
system. Herausgegeben von der Weltgesundheitsor-
ganisation (WH0). Aktuelle Ausgabe ist das ICD-10,
Version 2013.
Was sich aktuell mit der Neuauflage des DSM tut, steht
für eine allgemeine Tendenz in der Medizin und For-
schung, immer mehr alltägliche und zum Leben gehö-
rende Probleme und Seelenzustände zu pathologisie-
ren, sie also zu behandlungsbedürftigen Krankheiten
zu erklären. Als vor vielen Jahren die Kriterien für die
Aufmerksamkeitsstörung ADHS (siehe Textkasten) er-
weitert wurden, schossen die Zahlen der ausgestellten
Diagnosen raketenhaft in die Höhe.
Klaus Dörner
Michael Ganß
Reimer Gronemeyer
Dorothea Muthesius
Erich Schützendorf
Cornelia Stolze
Peter Wißmann
Widerstand gegen die Pathologisierung des Lebens tut not!
Sind wir denn alle
verrückt
?
ADHS
Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
(ADHS), manchmal auch als Aufmerksamkeitsdefi-
zit-/Hyperaktivitätssyndrom oder Hyperkinetische
Störung bezeichnet.
Die Inflation der Psychodiagnosen
Kinder, die einfach ein wenig lebhafter sind als andere,
sind der akuten Gefahr ausgesetzt, sofort zum Krank-
heitsfall gestempelt und mit Medikamenten „versorgt“
zu werden. In den USA sollen laut zweier Studien rund
eine Million(!) Kinder fälschlicherweise eine ADHS-
Diagnose erhalten haben.
Ständig werden neue Krankheiten definiert bezie-
hungsweise erfunden. Das erste DSM-Handbuch kam
1952 noch mit knapp 130 Seiten und etwas über 100 Di-
agnosen aus. Der jetzt erscheinende 5. Band braucht
über 1.000 Seiten und vermutlich über 300 Diagnosen.
Der amerikanische Psychiater Allen Frances, ehemaliger
Schirmherr des DSM-Handbuchs und heute schärfster
Kritiker einer allumfassenden Pathologisierung des Le-
bens, bringt es auf den Punkt: Ihm zufolge ist es kaum
noch möglich, ohne eine oder auch mehrere geistige
Störungen durchs Leben zu kommen. Sind wir denn alle
verrückt? Der SPIEGEL berichtete kürzlich, dass nach
einer Studie bereits 46 Prozent der US-Bevölkerung die
Kriterien einer psychischen Erkrankung erfüllten und
der Anteil offiziell als geisteskrank betrachteter Kinder
in 20 Jahren auf das 35-fache(!) gestiegen sei. Mit den
neuen DSM-Kriterien werden sich auch diese Zahlen
noch einmal kräftig steigern lassen.
Auch auf viele Menschen zutreffende Phänomene wie
Vergesslichkeit und andere kognitive Veränderungen
werden im Psychiatriemanual neu gefasst. Das, was man
in der Regel als Alzheimer oder Demenz bezeichnet, wird
nun unter dem Begriff „schwere kognitive Störung“ (ma-
jor neurocognitive disorder) vereint. Beunruhigen muss
aber vor allem der neue Terminus der leichten kognitiven
Störung (minor neurocognitive disorder). Obwohl schon
die sogenannte Alzheimerdemenz in der Fachwelt immer
stärker als klare Diagnose oder überhaupt als Krankheit
infrage gestellt wird, hindert das die Autoren des DSM
nicht daran, dieser unsicheren Kategorie eine noch viel
diffusere voranzusetzen.
Diese ist allerdings wunderbar in der Lage, jedem
noch so normalen und kleinen Gedächtnisproblem die
Aura des Pathologischen zu verleihen. Wer als älterer
Das erste Handbuch
für psychische
Störungen kam 1952
noch mit cirka
100 Diagnosen aus.
Im jetzt erscheinen-
den Band wird es
vermutlich über
300 Diagnosen geben.